Mit dem Schnaps kommen die Erinnerungen
Er ist 27 und Anwalt und immer da, wenn ich putze. Er ist einer, der genau weiß, was er will, nämlich seine Möbel selber entwerfen. Geht man durch seine grossen Räume, ist alles staubfrei, störungsfrei, in Ordnung gebracht durch mich, die Putzfrau einer anderen Kultur. Alles ist durchrationiert, er total trainiert, Zufälle, Unordnung, Störungen, Abweichungen, Zeitverlust gibt es nicht. Und wenn ich putze, ist er meistens da. Seine Klienten, vorwiegend Flüchtlingspaare, die in kaputten Häusern wohnen und täglich in der Unsicherheit leben, ob vielleicht doch das Dach über dem Kopf nicht einstürzt. Armut verpflichtet.
Und heute fragte ich ihn, weil er da ist und mich so anschaut: „Willst du was anderes oder soll ich putzen, willst du küssen, oder soll ich meine afrikanischen und puertoricanischen Freunde anrufen, die kochen dann für dich mit ihrem ganzen Clan hier. Ja, die würden dann mit ihrem ganzen Clan hier für dich kochen.“
Das wäre doch lustig, die bunten, farbigen, afrikanischen Gewänder - auf unkonventionellem Boden - das Lachen puertoricanischer Kinder in Räumen, die jetzt nur vom Echo bewohnt sind. Und jetzt kommt die Sache, die ich nicht denken kann, nur sagen kann, weil er immer da ist, wenn ich putze. „Entschuldigung, hast du Lust auf mich? Oder willst du reden?“
„Was soll das kosten?“
„Ich rede nicht von Geld.“
Warum bist du immer da, wenn ich da bin? Vertraust du mir nicht? Ich sag dir mal was, hier nebenan in der alten Siedlung, da bumsen alle schon mit 15, wenn auch nicht besonders oft. Das erste Mal treibst du es mit einem Mädchen, das alle schon mal hatten. Die sind meistens älter.
Es gibt da immer eine oder zwei, die mitmachen, die gehen dann in den Keller und bumsen mit mehreren. Donnerstag- und Freitagabend ziehen die älteren Mädchen und die verheirateten Frauen ein paar Nummern durch, vor allem am Ende des Monats, wenn sie pleite sind, ist hier viel los. Bei schönem Wetter stehen die Kerle vor den Häusern Schlange und spielen Domino. Ja, das ist das Viertel, das ist die andere Seite der Stadt, wusstest du das nicht?
Du tust mir richtig leid mit deinen blauen Augen, wie du mich so anguckst. Hier ist das so. Hier herrscht Wohnungsnot und der Brotpreis ist hoch. Es ist eine Tatsache, dass man Geld braucht, wenn man leben will. Wieviel bezahlst du fürs Wohnen? Vergiss es, du bist jetzt da, es ist so, und nun muss ich zu meinem nächsten Job. Ciao!
Für das andere hätte ich eine Freundin für dich.
Der Freund meiner nächsten Kundin ist Kommunikator, seine Generation wird abgehärtet im Dauergewitter von Pop, Rap, Handy und Klingeltönen - immer schön an der Oberfläche. Kultur muss immer originell sein. Immer wenn es global heikel wird, hängt er die Peace-Fahne aus dem Schlafzimmer.
Die Ich-Schwäche des kinderlosen Doppelverdieners staube ich jeden Donnerstag von 3-6 Uhr ab. Auch er leistet mir gerne Gesellschaft und liest so ganz nebenbei aus seinem Buch, das er gerade schreibt, laut und stark. Wie finden Computerkids ihren Stand in der Welt, in sich selbst?
Wie erden sich Surfer? Auf welcher Insel machen sie Halt? Welches Produkt braucht ein reengineering, wie deklariert man Flexibilität und ... was ist Freiheit? Seine ist subventioniert.
Ich frage ihn nach seinem Lieblingsautor.
„Ach, ich mag irgendwie ganz viele.“
Was er denn gerade lese?
„Ich habe schon lange keine Zeit mehr, denn ich schreibe selbst, mein Buch, das wird besonders, ich gebe es dir zum Lesen.“
Oh junger Mann - Trauer, hart, fern der Schönheit auf zertretenem Rasen der Kultur - die Subventionierten werden nervös, die Regierung wechselt den Kurs, die Subventionierten sind nervös. Zu Hause schaue ich aus meinem kaputten Küchenfenster hinaus und denke an meine Heimat, an das Wasserstauen hinter Grossmutters Haus, mein Haus, eine Welt ohne Computer, die Flucht mit Mutter, und dass das Wasserstauen keinem äusseren Zweck diente, sondern ein Spiel war. Eine falsche Bewegung, und die Anstrengung von Stunden schwamm bachab.
Warum erzähl ich das? Weil heute alles so überall geworden ist, weil man sich am Rande des Möglichen, aber ja nicht darüber hinaus bewegt.
Aber ich bin wunschlos glücklich. Ich bin nicht ausgebrannt.
Ich fühle, dass alles neu und frisch ist. Ich fange jetzt an. Das ist mein goldenes Zeitalter. Wenn nur jede Generation einsehen würde, das die Zeit für Grossartiges gerade jetzt ist, wenn sie lebendig ist - die Zeit aufzublühen ist jetzt.